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Vernissagerede von Hans Platzgummer »s'Ruthle«
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Vernissagerede von Hans Platzgummer »s'Ruthle« Empfehlung

Vernissagerede »s'Ruthlevon Hans Platzgummer

‘s Ruthle

Ich kannte das Ruthle – um sie hier jetzt wenigstens einmal mit ihrem richtigen, majästetischen Namen anzusprechen: Ruth Maria Abbrederis, geborene Feuerstein – diese Frau, allein deren Name eigentlich schon Literatur ist, sie, die durch und durch eine Sie war, une vraie femme, wie der Franzose sagt, in ihrer kleinen Welt wohl sogar une grande dame, sie, die heute ein Neutrum geworden ist, das Ruthle kannte ich leider nicht allzu gut. Ich kannte sie wahrscheinlich schlechter, wie die meisten der hier Anwesenden. Wie auch? Sie war ein ähnlicher Jahrgang wie meine eigene Mutter – und damit haben sich die Parallelen zwischen diesen beiden Frauen praktisch schon erschöpft. Während meine eigenbrötlerisch, ungesellig, ja ungastfreundlich war/ist, eine typische Tirolerin eben, scheint das Ruthle das Gegenteil gewesen zu sein, ein Mensch, der das Leben und Mitmenschen und Hunde umarmte und jede Gelegenheit dazu nutzte, auf dieses eine Leben und insbesondere mit der und auf die Bohème anzustoßen. Das Leben ein Fest. Meine eigene Mutter – sie hatte übrigens bei Weitem keinen annähernd so verführerischen Namen wie das Ruthle, sie hieß Evi, geborene Eva Knapp, später dann Platzgummer, nachdem sie, diese Tiroler Eva sich mit einem Adolf verheiratet hatte, einige Jahre nachdem im Führerbunker in Berlin die Bayrische Eva unter Anwesenheit ihres Trauzeugen Joseph Goebbels den ihrigen Adolf geheiratet und einen Tag später zusammen mit ihm eine Kapsel Zyankali eingenommen hatte. Meine eigene Mutter also, ich hoffe, sie können mir noch folgen, sie ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Die etwaigen Rätsel hingegen, die um die Abbrederis Ruth herum kursieren, sie sind ab sofort zu gewissen Teilen gelüftet. Denn nun, ein Jahr nach ihrem Ableben im Oktober 2021, präsentiert ihr einziger Sprößling dieses wunderbare, berührende, amüsante und herzerwärmende Buch.

Ich selbst bin zwar Schriftsteller und hab ein Dutzend Bücher geschrieben, aber eines über meine Mutter ist mir im Gegensatz zu Christoph Abbrederis nie gelungen. Vor ein paar Jahren begann ich sogar mit einer solchen Arbeit. Ich führte Interviews mit meiner Mutter, um herauszufinden, was sich in ihrem Leben wirklich abgespielt hatte und in ihrem Kopf wirklich vor sich ging. Doch sie ließ mich auflaufen. Ein paar verklärte Erinnerungen waren aus ihr herauszuholen, mehr nicht, Nostalgien, die eher früher als später darauf hinausliefen, dass es eine schöne Zeit war, egal welcher Bombenhagel oder Rassenwahn, egal welche Propaganda oder Armut sie umgaben. Christoph, den ich immer Stoffl nenne, ich kann es mir nicht abgewöhnen, er stellte es viel geschickter an als ich und reüssierte im größtmöglichen Triumph. Er hat ein Buch über seine Mutter verfasst, das weder wehmütig noch beschönigend ein Menschenleben beschreibt, welches, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, aus weitgehend allgemein bekannten Bausteinen seinen eigenen Kosmos zusammensetzt. So unspektakulär dieses sich ganz aufs Privatistische begnügende Dasein auch gewesen sein mag, heute, in diesem zugleich Bilder- wie literarischen Buch, auf die Art und Weise wie hier anekdotenhaft Bilder und Texte ineinanderfallen, offenbart es mehr als bloß das 1928 gekommene und 2021 gegangene Ruthle. ‘s Ruthle beschreibt die Generation dieser Frau und kann und sollte deshalb von jedem und jeder nachfolgenden Generation genossen werden, egal, ob sie die Frau, die hier porträtiert wird, kennen oder nicht.

Eigentlich ist es auch kein Buch über diese Frau, sondern mindestens ebensosehr eines über ihren Sohn, den Ich-Erzähler, der sich hier zwischen und in den Zeilen selbst erklärt. Ihn kenne ich im Gegensatz zu seiner Mutter schon seit Jahrzehnten und so gut, wie man einen Freund und Bekannten im Lauf der Zeit halt kennenlernt. Vor über 30 Jahren hab ich den Stoffl kennengelernt, damals weit von Bregenz entfernt im New Yorker East Village, wo wir beide wohnten. Im Ruthle schreibt er, dass er sich nirgends so wohl fühlt wie in Kaffeehäusern. Damals in New York waren es eher die Bars und Spelunken der Stadt, wo man ihn traf, meist mit irgendeinem Gin-haltigen Longdrink in der Hand, wenn ich mich recht erinnere, und ins Gespräch mit anderen Künstler*innen und Nachtgestalten versunken. Diese Vorliebe, lerne ich aus dem Ruthle, hat er direkt von ihr übernommen. Sie trieb sich zwar nicht in Downtown Manhattan herum, aber zuhause in Bregenz setzte sie mit großer Leidenschaft den eigenen Johannisbeerlikör an und verführte jeden und jede zu einem oder mehreren Gläsern, der oder die sich den Hügel zum Abredderischen Hüsle hochgekämpft hatte und dementsprechend durstig war.

Ein, zwei Jahre vor Corona dürfte es gewesen sein, da kam ich diesen Hügel hoch und lernte ihre ungetrübte Gastfreundschaft kennen. Das Ruthle war bereits um die 90, und die Vergesslichkeit im Alter ging bereits in eine je nach Tagesverfassung mehr oder weniger stark ausgeprägte Verwirrung über. Für mich war das nichts Ungewohntes oder gar Irritierendes, im Gegenteil. Mein Vater hatte sich bereits seit einem Jahrzehnt in einer immer umfassenderen Demenz verloren und, wen immer er an manchen Tagen in mir zu erkennen meinte, es wirkte, als wäre ich der einzige Mensch auf Erden, den er überhaupt noch kannte. Meine Mutter hingegen, mit der er 70 Jahre lang verheiratet war, sie entglitt ihm ganz. Einmal, als sie ihn und mich im Krankenhaus besuchen kam, sah er sie groß an und fragte mich, ob diese Frau ebenfalls eine Polizistin sei. Nein, sagte ich. Ach so, sagte er – die zwei Wörter, mit denen er auf alles reagierte, was sein Fassungsvermögen überschritt. Doch eine wildfremde Polizistin blieb seine Ehegattin an diesem Tag für ihn, so lange, bis auch ich es glaubte.

Ja, es war für mich nicht außergewöhnlich, mit einem Ruthle zu parlieren, das zuweilen in Löcher im Universum abtauchte und dann unvermittelt in aller Klarheit wieder mit mir am Tisch saß – nun meist mit einem Gläsle Wein statt dem Likörle, das anzusetzen sie wohl nicht mehr imstande war. Sie mochte mich, das war augenscheinlich. Ohnehin hatte sie, wie dem Buch zu entnehmen ist, ein Auge auf attraktive junge Männer geworfen, wie ich vor ein paar Jahren noch einer war. Noch dazu, das musste sie intuitiv gespürt haben, war ich ein Bohème, ein Künstlertyp, zart beseitet, kein grobschlächtiger Provinzler, sondern einer, der den schönen Künsten zugeneigt war. Hier war sie nun ganz in ihrem Metier. Sie empfing mich in ihrem Haus, wo sich illustre Kreativlinge die Klinke in die Hand geben und ihre Gläser erheben sollten. „Danke für die angenehme Gesellschaft“, der Titel dieses Buchs, genau das drückte ihr strahlendes, jederzeit zum Flirt bereites Gesicht aus. „Danke für die angenehme Gesellschaft“ hätte auch ich zu ihr sagen können. Ärgerlich, dass ich es nicht getan habe, nicht oft genug getan habe.

Zu Stoffl, ihrem Sohn, aber sagte sie es schließlich. Ganz am Schluss, als unweigerlich die Festbeleuchtung ihres Lebens ausgeknipst wurde. Als Abschiedsworte wählte sie diese fünf. Mein Vater hingegen war, kurz bevor er den letzten Atemzug tat, profaner und weniger feierlich. Er schaute mich an oder durch mich hindurch irgendwohin in die unendlichen Weiten des Nichts und sagte lediglich: „Pfiati.“ Ruth Abbrederis wusste bis zu ihrem endgültigen Ableben einen festlich höflichen Ton zu wahren. „Danke für die angenehme Gesellschaft“, sagte sie. Danke für dieses großartige Buch, lieber Stoffl, mit dem du ihr und allen wie ihr ein Denkmal gesetzt hast.Enchanté. Und jetzt: Santé, du Ruthle du! À la tienne!

Hans Platzgumer, Oktober 2022


 

Gelesen 2098 mal Letzte Änderung am Mittwoch, 02 November 2022 16:27
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